
Die Weihnachtsansprache des niederländischen Königs am 25. Dezember 2021
Aus dem Niederländischen übersetzt von Herausgeberin Bianka Specker
„Im Oktober erhielt ich das erste Exemplar der neuesten Bibelübersetzung. Die alten Quellen wurden auf der Grundlage der neuesten Erkenntnisse in die Sprache unserer Zeit übersetzt. Dazu gehört auch die Weihnachtsgeschichte.
Ein wehrloses Kind als Zeichen der Hoffnung. Die Geschichte von der Geburt Jesu regt nach wie vor die Phantasie an. Sie ist zu allen Zeiten und an allen Orten erzählt worden. In festlich beleuchteten Kirchen. Aber auch in Baracken und Schutzräumen. Überall und immer wieder gibt sie den Menschen Trost und Mut. Auch jetzt, an diesem Weihnachten, das notgedrungen viel nüchterner und ruhiger ist, als wir uns alle erhofft haben.
Geschichten geben unserem Leben Sinn und Bedeutung. Indem wir Geschichten erzählen und ihnen zuhören, verbinden wir uns miteinander.
Jeder von uns hat seine eigene Geschichte. Schließlich sind wir Menschen sehr unterschiedlich. Wir sehen das Leben auf sehr unterschiedliche Weise.
Wir sind frei zu denken und zu glauben, was wir wollen. Wir sind frei, unsere eigene Weltsicht zu entwickeln und in Worte zu fassen. Zum Glück ist das so!
Bei meiner Arbeit habe ich das Privileg, eine Vielzahl von Menschen zu treffen und ihre persönlichen Geschichten zu hören.
Manchmal ist es eine Geschichte von Mut und Beharrlichkeit.
Wie im Van Weel-Bethesda-Krankenhaus in Dirksland, wo mir eine Krankenschwester von dem Kampf gegen Erschöpfung vieler Patienten auf der Intensivstation berichtete. Ich dachte sofort an die Anstrengungen, die sie und ihre Kollegen durchmachen müssen. Eine Anstrengung, die bis zum heutigen Tag von all den fantastischen Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern fortgesetzt wird, die sich unermüdlich für unsere Gesundheit einsetzen.
Ich höre auch Geschichten von Stolz und Ambition.
Studenten der TU Delft arbeiten an der Mobilität von morgen: sauber und klimaneutral.
Und das Unternehmen in Deurne. Es stellt Elektrobusse mit leichten Materialien und Techniken aus der Luftfahrt her. Die Mitarbeiter erzählten mir, wie sie mit einem kleinen Team angefangen hatten und wie stolz sie auf den Erfolg ihres Teams waren.
In anderen Geschichten, die ich höre, stehen Sorgen und Spannungen im Mittelpunkt.
Eine Bauernfamilie in Overschild, in Groningen, mit einem Milchviehbetrieb. Wird eines der Kinder in der Lage sein, den Betrieb zu übernehmen, mit all dem Elend der undichten Düngemittelkeller und anderen Erdbebenschäden?
Menschen von der Polizei, der Feuerwehr und dem Rettungsdienst, die ich letzten Monat in Rotterdam nach der sinnlosen Gewalt dort getroffen habe. Ein Polizist mit 37 Jahren Erfahrung sagte: „So etwas habe ich noch nie erlebt“. Ein junger Offizier erzählte mir, wie er sich um ein Opfer kümmerte und dabei mit Steinen beworfen wurde.
Manchmal höre ich Geschichten von großer Wut und Verzweiflung.
Ein Gespräch mit einer Gruppe von Eltern, die in die Sozialleistungsaffäre verwickelt sind, hat mich sehr beeindruckt. Niederländische Bürger, deren Leben zerstört wurde. Eine von ihnen erzählte, wie sie als kleines Mädchen mit ihren Eltern in die Niederlande gekommen war. Ihr Vater und ihre Mutter hatten ihr immer gesagt: Wenn du dein Bestes gibst und hart arbeitest, kannst du es in diesem Land weit bringen. Nun saß mir eine desillusionierte Frau gegenüber. Das hat mich tief berührt.
Es gibt noch viele weitere Geschichten, an die ich mich erinnere. So unterschiedlich sie auch sein mögen, so scheint es mir doch, dass sie viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Die gleichen Elemente kehren immer wieder.
Es gibt immer wieder – in jedem Menschen – das Bedürfnis, gehört zu werden. Schauen Sie mich an. Hören Sie mir zu. Versetzen Sie sich in meine Lage. Lassen Sie mich dazugehören. Lassen Sie mich einen Beitrag leisten!
An Geschichten mangelt es uns nicht, aber manchmal fällt es uns schwer, ihnen zuzuhören und die Menschen dahinter zu sehen. Auch wenn wir wissen, dass wir nie in einem Thema übereinstimmen werden, müssen wir nach Gemeinsamkeiten suchen. Auch wenn die Positionen weit auseinander liegen: wir müssen weiterhin zusammenleben.
Inmitten all der Ungewissheit ist jeder auf der Suche nach Anschluss. Selbst unter der dicksten Panzerung ist immer der Wunsch vorhanden, gemeinsam mit anderen auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten.
Vielleicht liegt hier der Keim einer gemeinsamen Geschichte.
Was ich sehe, ist die Bereitschaft so vieler Menschen – junger und alter – zur Lösung von Problemen beizutragen, die uns alle betreffen. Wie die Coronapandemie. Aber auch der Klimawandel, den wir selbst verursacht haben und dessen Folgen wir jetzt zu spüren bekommen.
Da gemeinsam etwas dagegen tun. Entscheiden für eine einladende Perspektive, für eine gemeinsame Unternehmung zum Schutz unseres Lebens auf der Erde. Auch das kann ein Teil unserer Geschichte sein. Eine große Geschichte noch dazu…
Es ist schwer, an eine Gesellschaft ohne Geschichte zu glauben. Wir machen diese Geschichte selbst. Ein neues Kabinett darf dabei nicht fehlen. Jeder wird gebraucht.
Wir machen die Geschichte.
Welche Geschichte werden die Leute später über uns erzählen? Welchen Beitrag leisten wir?

Der Einfluss eines jeden von uns ist größer, als wir oft denken.
Ein schönes jüdisches Sprichwort sagt: Wenn du ein Leben gerettet hast, hast du die Menschheit gerettet.
Ich wünsche Ihnen allen – wo auch immer Sie sind und wie auch immer Ihre persönlichen Umstände sind – ein gesegnetes Weihnachtsfest.“
Die Weihnachtsansprache des Königs Willem-Alexander auf dem Youtube Kanal des Königshauses:
Bildquellen
- Kersttoespraak 2021: RVD - Robin Utrecht
- Kerstkaart 2021: RVD - Jeroen van der Meyde