Schwere Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt durch früheren Leiter der psychologischen Beratungsstellen im Bistum Osnabrück

Osnabrücker Dom Foto: Bianka Specker

Monitoring-Gruppe im Schutzprozess stellt Untersuchungsergebnisse vor

Ein früherer Leiter des Referats für Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatung im Bistum Osnabrück hat sich in seiner Amtszeit zwischen 1969 und 1996 schweren Machtmissbrauchs und vielfältiger Gewaltanwendung gegen ehemalige Mitarbeiter und Klienten schuldig gemacht.

Zu diesem Ergebnis kommt eine interne Untersuchung, die das Bistum Osnabrück im Auftrag der Monitoring-Gruppe im diözesanen Schutzprozess durchgeführt hat, nachdem sich Betroffene gemeldet hatten. Auch die Rolle früherer Bistumsleitungen im Umgang mit Betroffenen und dem Beschuldigten war Gegenstand der Untersuchung.

Der Beschuldigte S. war von 1969 bis 1996 Referatsleiter und am Aufau zahlreicher Beratungsstellen im Bistum Osnabrück beteiligt. Er leitete auch selbst eine Beratungsstelle. S. galt als Koryphäe auf dem Gebiet der Verzahnung von Theologie und Psychoanalyse. Er verstarb 2004. S. war kein Kleriker. 

Im Monitoring berichtet steht, dass „mehrere Betroffene berichten, von S. sexuell missbraucht worden zu sein. Auch ein möglicher geistlicher Missbrauch steht im Raum. Unter den Betroffenen befinden sich Frauen und Männer, darunter auch Geistliche und Priesteramtskandidaten.“

„Es ist erschreckend, dass solche Formen von Machtmissbrauch und Gewalt in der Vergangenheit auch im besonders sensiblen Feld von psychologischer Beratung gedeihen konnten“, sagt Domkapitular Ulrich Beckwermert als Vertreter der Bistumsleitung.

„Das zeigt, wie wichtig Präventionsarbeit und entsprechende Schutzkonzepte sind, die wir in den vergangenen Jahren auch in unseren EFLE-Beratungsstellen installiert haben. Wir werden über das Ergebnis der Untersuchung mit den Mitarbeitern unserer Beratungsstellen im Gespräch bleiben und prüfen, ob sich durch die Erkenntnisse aus der Vergangenheit noch weitere notwendige Maßnahmen ergeben, um die hohe Qualität der heutigen Beratungsarbeit auch für die Zukunft zu sichern.“

Betroffene, die Machtmissbrauch und Gewaltanwendung durch den Referatsleiter erlebt haben, können sich insbesondere an Herrn Simon Kampe wenden, den Ombudsmann im Schutzprozess. Alternativ können sie sich auch an die unabhängigen Ansprechpersonen wenden.

Alle Kontaktdaten im Internet unter www.bistum-osnabrueck.de/hilfen-fuer-betroffene


Hier der vollständige Bericht der Monitoring Gruppe:

Bericht der Monitoring-Gruppe im diözesanen Schutzprozess gegen sexualisierte Gewalt und geistlichen Missbrauch zur Untersuchung in der Causa S. 

Mite 2021 erhoben mehrere ehemalige Mitarbeiter und Klienten Vorwürfe gegen den früheren Leiter des Referats für Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatung (EFLE) im Bistum Osnabrück. Der Beschuldigte S. war von 1969 bis 1996 Referatsleiter und am Aufau zahlreicher Beratungsstellen im Bistum Osnabrück beteiligt. Er leitete auch selbst eine Beratungsstelle. S. galt als Koryphäe auf dem Gebiet der Verzahnung von Theologie und Psychoanalyse. Er ist 2004 verstorben. S. war kein Kleriker. 

Die mehrheitlich mit bistumsunabhängigen Personen besetzte Monitoring-Gruppe, die für die Steuerung und Kontrolle des diözesanen Schutzprozesses gegen sexualisierte Gewalt und geistlichen Missbrauch im Bistum Osnabrück zuständig ist, forderte das Bistum Osnabrück angesichts der Vorwürfe zu einer systematischen Aufarbeitung des Falles auf. Das Bistum Osnabrück leitete daraufhin im Jahr 2022 eine interne Untersuchung ein, in deren Rahmen nicht nur Akten ausgewertet, sondern auch über 15 Zeugenaussagen, darunter die mehrerer Betroffener, berücksichtigt wurden. 

Die Untersuchung erfolgte in zwei Teilen: Der erste Teil befasste sich mit den konkreten Vorwürfen, die von den Betroffenen gegen S. erhoben wurden. Dabei wurde auch geprüft, ob während der Dienstzeit von S. Vorwürfe gegen ihn an die damalige Bistumsleitung (Bischof Helmut Hermann Witler [Amtszeit: 1957–1987] und Bischof Ludwig Averkamp [Amtszeit: 1987–1995]) herangetragen wurden und wie damit gegebenenfalls umgegangen wurde. Der zweite Teil der Untersuchung beleuchtete die Frage, ab wann die nach dem Ausscheiden von S. aus dem kirchlichen Dienst amtierende Bistumsleitung (Bischof Franz-Josef Bode [Amtszeit: 1995–2023] und Generalvikar Theo Paul [Amtszeit: 1997–2020]) Kenntnis von den Vorwürfen gegen S. hate und wie sie damit umging.

Sowohl Bischof em. Franz-Josef Bode als auch Domkapitular Theo Paul wurden im Rahmen der Untersuchung befragt. 

Die interne Untersuchung wurde von einer Juristin und einem Kirchenrechtler durchgeführt. Den abschließenden Untersuchungsbericht hat der Münsteraner Rechtsanwalt und ehemalige Notar Jost Hütenbrink auf Plausibilität, Vollständigkeit und Richtigkeit geprüft. Er hat keine Mängel festgestellt. Die Untersuchung ist nicht Teil der Aufarbeitungsstudie der Universität Osnabrück zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Osnabrück. 

Die Untersuchung bestätigt die gegen den früheren Referatsleiter erhobenen Vorwürfe: Demnach hat S. die durch seine Position verliehene Macht auf vielfältige Weise missbraucht und gegen Mitarbeiter und Klienten verschiedene Formen von Gewalt ausgeübt.

Betroffene berichten von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt durch S. Er habe immer wieder seine Rollen als Vorgesetzter, Therapeut und Ausbildungsleiter vermischt und Vertrauensverhältnisse ausgenutzt und missbraucht. Das in den Gesprächen erworbene Wissen habe S. genutzt, um sich ein Netz von Abhängigkeiten zu schaffen und Macht über die Betroffenen auszuüben.

Er schuf sich ein familienähnliches geschlossenes System, zu dem nur Zugang hatte, wer seinen Vorstellungen entsprach. S. soll Klienten und Schulungsteilnehmer in Gruppensituationen gedemütigt und auch zu Handlungen gezwungen haben, die diese nicht wollten; dabei sei es auch zu körperlicher Gewalt gekommen. Nicht wenige Mitarbeiter hatten vor ihm und seinen Reaktionen Angst.

Mehrere Betroffene berichten, von S. sexuell missbraucht worden zu sein. Auch ein möglicher geistlicher Missbrauch steht im Raum. Unter den Betroffenen befinden sich Frauen und Männer, darunter auch Geistliche und Priesteramtskandidaten. 

Die Untersuchungsergebnisse legen auch den Schluss eines Titelmissbrauchs durch S. nahe: Sein angeblich an der Universität Mannheim erworbener Doktortitel (Dr. rer. pol.) konnte nicht verifiziert werden. Auch der Vorwurf der Veruntreuung von Geldern wurde erhoben, konnte im Rahmen der Untersuchung aber nicht eindeutig geklärt werden. 

Es fanden sich keine belastbaren Hinweise darauf, dass während seiner Dienstzeit konkrete Vorwürfe von Machtmissbrauch und Gewalt gegen S. an die damals amtierende Bistumsleitung oder die Mitarbeitervertretung herangetragen worden wären. Eine Vertuschung zur damaligen Zeit lässt sich nicht nachweisen. Zeugen berichten jedoch von Gerüchten, die über S. seinerzeit im Umlauf gewesen sein sollen, etwa über seinen Doktoritel. S. soll ein enges Verhältnis zu damaligen Mitgliedern der erweiterten Bistumsleitung gehabt haben; teilweise sollen diese bei S. in Beratung gewesen sein.

S. genoss im Bistum hohes Ansehen und eine Art „Narrenfreiheit“. Viele Zeugen sehen darin den Grund für die unterbliebenen Beschwerden – angesichts der Stellung von S. häte eine Meldung ihrer Meinung nach keine Aussicht auf Erfolg gehabt. 

Erst nach dem Ausscheiden von S. aus dem kirchlichen Dienst sind Meldungen von Betroffenen an die Bistumsleitung nachweisbar. Erstmals Ende der 1990er Jahre wandte sich ein Zeuge an Bischof Bode und berichtete ihm wiederholt von Machtmissbrauch durch S. und dessen Abhängigkeitssystem. Ein weiterer Betroffener meldete sich 2013 und berichtete Bischof Bode in einem mehrseitigen Brief detailliert über den sexuellen Missbrauch durch S., der bis zur Vergewaltigung gegangen sei.

Über beide Fälle sprach Bischof Bode auch mit Generalvikar Theo Paul. Eine konsequente Aufklärung der Vorwürfe gegen S. unterblieb seinerzeit allerdings. Bischof em. Bode räumte im Rahmen der nun erfolgten Untersuchung eigene Versäumnisse im Umgang mit den Vorwürfen gegen S. ein. Der ehemalige Generalvikar Theo Paul sah aus den damaligen Gesprächen mit Bode jedoch keinen Arbeitsauftrag für sich abgeleitet. Dies erscheint der Untersuchung angesichts seiner Stellung und Verantwortung im Bistum nicht überzeugend. 

Von der Monitoring-Gruppe mit den Ergebnissen der Untersuchung konfrontiert, äußerten sowohl Bode als auch Paul gemeinsam ihr starkes Bedauern über „je eigene Fehler durch unser Tun und Unterlassen im Umgang mit den Vorwürfen gegen S.“

Bildquellen

  • DomHerbst: Bianka Specker